Warmes Abendlicht liegt über den Dächern von Paris. Ein süßlich-melodramatisches Chanson erklingt, und auf den blütengeschmückten Straßen darunter tummeln sich Menschen, die Richtung Hafen ziehen. Man spielt Gustave, Anfang dreißig, mit wallendem Haar und einem imposanten Schnauzer. Während man sich mit ihm den Weg über die Dächer bahnt, merkt man schnell, dass trotz der Idylle seltsame Dinge vor sich gehen, denen jedoch kaum jemand Beachtung schenkt: Trümmerteile des Arc de Triomphe schweben schwerelos über der Stadt, der Eiffelturm thront grotesk verzerrt über ihr, und das Belle-Époque-Paris liegt plötzlich am Meer (Abb. 1).

Von seiner Ziehtochter Maelle (Abb. 2) erfährt man, dass man unterwegs zu einem in zwei Farben blühenden Baum ist, um dort Sophie – the one that got away – zu treffen. Im klaren Abendhimmel schweben die Fragmente des Triumphbogens, eingefroren in der Bewegung, regungslos in der Luft: ein im Stillstand konservierter romantisch-schöner Verfall. Die Zeit der Siege scheint vorbei; was bleibt, ist das Schwelgen im Nachhall. Paris, so erfährt man später, wurde vor über 60 Jahren während der „Fracture“ ins Meer geschleudert. Seitdem fristet die Innenstadt ein Inseldasein im Ozean. Wie es um den Rest der Welt steht, weiß man nicht – Kundschafterexpeditionen kehren nie zurück.

Schließlich trifft man Sophie, überreicht ihr eine Blume für ihren Blumenkranz, und trotz der langen Trennung stellt sich sofort eine tiefe Vertrautheit ein, durchzogen von Wehmut. Die Stadt feiert heute mit Blumen die Gommage – eine Abschiedszeremonie, die mit dem übernatürlichen Damoklesschwert zu tun hat, das über der Welt von Clair Obscur: Expedition 33 schwebt. Auf der anderen Seite des Ozeans gibt es „die Malerin“, die jedes Jahr eine leuchtende Zahl an einen Baum schreibt. Vor 67 Jahren begann sie mit 100 – nun ist sie bei 33 angelangt. Löscht sie eine Zahl, um die nächste zu schreiben, verschwinden alle Menschen dieses Alters spurlos. So löst sich Jahrgang für Jahrgang auf – immer im Wissen darum, wann das letzte Jahr begonnen hat. Die Gesellschaft ist geschrumpft, besteht nur noch aus unter 33-Jährigen – darunter viele Waisen.
Für das letzte Lebensjahr gibt es zwei Alternativen: Entweder man bleibt in der Stadt und verbringt die letzten Monate mit seinen Liebsten, oder man schließt sich einer Expedition an, um über das Meer zu reisen, die Malerin aufzuhalten und das langsame Verschwinden der Menschheit zu stoppen. Doch die 67 Expeditionen vor einem scheiterten – keine kehrte zurück.
Sophie hat sich für ersteres entschieden, und nun begleitet man sie an ihrem letzten Tag auf dem Weg zum Hafen, wo sich die Stadt versammelt, um der Malerin auf der anderen Seite beim Fortschreiben der Vernichtung zuzusehen. Unterwegs kann man nahtlos zwischen den beiden Figuren, Gustave und Sophie, wechseln. Zahlreiche Stadtbewohner heben sich als Interaktionsmöglichkeiten mit Button-Prompts aus der Menge hervor. Dabei erfährt man, dass sich Sophie und Gustave einst trennten, weil sie unterschiedliche Auffassungen zur Frage hatten, ob man in dieser schwindenden Welt Kinder haben sollte – oder überhaupt darf. Sophie begegnet einer gleichaltrigen Freundin, die ein Kind großgezogen hat und nun ebenfalls zum Hafen geht, um ihr Verschwinden zu zelebrieren. Gustave hingegen ist entschlossen, sich der nächsten Expedition anzuschließen und sein letztes Jahr kämpfend zu verbringen.
Auf dem Weg zum Hafen wird auch das Kampfsystem des JRPGs durch freundschaftliche Duelle eingeführt. Genretypisch wählt man in der durch den Agilitätswert bestimmten Reihenfolge Angriffe oder Aktionen. Besonders ist, dass man durch Quicktime-Events eigene Angriffe verstärken oder gegnerische abwehren oder umlenken kann. Das Zeitfenster für ein erfolgreiches Parieren ist so eng, dass man Angriffsmuster und -animationen verinnerlichen muss, um rechtzeitig reagieren zu können. Jeder Kampf wird so zu einem Synchronisierungstanz mit dem Gegenüber – erinnert an Bosskämpfe in FromSoftware-Titeln. Die gedehnte, honigzähe Melancholie der Dialog- und Zwischensequenzen wird dabei vom mechanischen Druck des Kampfes kontrastiert: einem radikalen Im-Jetzt-Sein, das der Welt von Clair Obscur, die längst von der Zukunft gefressen scheint, widerstrebt.
Dann ist es so weit: Eine weitere Generation löst sich in Blütenblätterwirbeln auf. Die Ältesten – die 34-Jährigen – verschwinden spurlos, ohne Leichen zu hinterlassen. Sophie und Gustave teilen einen letzten Moment inmitten dieser kitschigen Vernichtungszeremonie. Der Liebesbeweis ist das Dasein füreinander in diesem Moment der Auflösung: „I am here.“

Danach geht es für den sichtlich mitgenommenen Gustave (Abb. 3) zur Abschiedsfeier der Expedition 33, die am nächsten Morgen aufbrechen wird. Die Todgeweihten trinken, sprechen sich Mut zu – eine weitere ritualisierte Selbstwirksamkeitserfahrung angesichts des (fast sicheren) Weltuntergangs. Hier lernt man die zukünftigen Weggefährt:innen kennen und die Beweggründe jeder einzelnen Figur, sich auf diese Mission zu begeben. Gustaves Mantra „For those who come after“ begleitet die Mission, deren Ziel es ist, die Welt wiederherzustellen. Dann – der nächste Morgen. Man segelt über das Meer. Die Expedition hat begonnen. Der Titel erscheint: Clair Obscur: Expedition 33.
Auf der anderen Seite (Abb. 4) wartet das Grauen. Kaum betreten die Expeditionsmitglieder den Strand, bricht die Hölle los. Körper werden zerfetzt, Leben ausgelöscht. Von der Pariser Melancholie in Blütenblättern wechselt das Spiel abrupt in eine Szenerie, die an die Landung in Saving Private Ryan erinnert. Der latenten Vernichtung am Horizont – dem spurlosen Vergehen – folgt nun eine körperlich erfahrbare Kriegsgewalt. Erst nach quälend langer Zeit wird der Ursprung dieser Brutalität offenbar: der Anblick eines alten Mannes.

Die stilsicheren Mid-Thirties der europäischen Innenstädte, längst an das tägliche Leben im Angesicht des Untergangs gewöhnt, stehen zum ersten Mal einem Boomer gegenüber – einem Mann, der die Fracture überlebt hat und irgendwie dem Countdown der Malerin entkommen ist. Er steht am Strand, um der nachkommenden Generation den Weg zur Malerin zu versperren – womöglich, um seine Unsterblichkeit zu sichern. In der Weltuntergangsfantasie der Mid-Thirties drohen die Protagonist:innen zwischen denjenigen, die vor ihnen kamen, und denen, die nach ihnen kommen werden, zerrieben zu werden – im grausamen Generationenkampf, der dann doch irgendwie ganz anders kommt, als man eingangs dachte.
Dieser Text ist Teil unserer Reihe Anfänge.
Bildquelle:
Alle Abbildungen aus dem Press Kit von Clair Obscur: Expedition 33 [Sandfall Interactive, 2025].
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